Ausstellungskritik von Nike Hübner im Hamburger Abendblatt vom 5.7.2004

Punkt, Linie, Fläche, Primärfarben – die Grundlagen der Malerei, ihre essenziellen
Mittel. Sie scheinen wenig, bergen jedoch ein unerhörtes Potenzial. Vor allem wenn
sie in einer so kontemplativen Konzentration vor Augen geführt werden, wie in den
Gemälden von Ursula Herrndorf derzeit in der Galerie Sediwa.
Mit sparsamsten Mitteln schafft die Hamburger Malerin, die in den repräsentativen
Räumen am Mittelweg gemeinsam mit Alexey Mirni und Summer Shamma aussstellt,
einen äußerst streng gegliederten Bilderkosmos. Raster und Gitter bilden gleichsam
das Gerüst für die Farbe, die hier flirrend und leuchtend ihre ganze Kraft entfaltet.
Seit ihrem Kasseler Studium in den 80er-Jahren untersucht die an Impressionismus
und Farbfeldmalerei orientierte Künstlerin optische Phänomene. Die reine Farbe, die
für sie weniger Materie, denn Lichtwerte sind. Gegenstände und Figuren würden da
nur ablenken und stören. Vom Gegenstand befreit aber werden die in vielen
Lasurschichten aufgebauten Farbräume selbst zum Träger von Bedeutungen,
Gefühlen, Assoziationen und Erinnerungen.
Besonders deutlich wird das in den jüngsten Gemälden, den so genannten
Schattenbildern. Als körperloser, flüchtiger Spiegel der gegenständlichen Welt
vermitteln die einen Hauch von Wehmut, Trauer und Vergänglichkeit. Wo Licht ist,
da ist auch Schatten – in Ursula Herrndorfs lyrischen Bildern ist diese Weisheit in all
ihren Dimensionen erfasst.


Auszug aus der Rede von Dr. phil. Gerhard Röper zur Ausstellungseröffnung
„Lichtspiel“ in der Galerie Elbchaussee im Mai 2003

„....Konkrete Kunst nennen wir jene Kunstwerke, die auf Grund ihrer ureigenen Mittel
und Gesetzmäßigkeiten – ohne äußerliche Anlehnung an Naturerscheinungen oder
deren Transformierung, also nicht durch Abstraktion – entstanden sind. Konkrete
Kunst ist in ihrer Eigenart selbständig, sie ist der Ausdruck des menschlichen Geistes,
für den menschlichen Geist bestimmt, und sie sei von jener Schärfe, Eindeutigkeit und
Vollkommenheit, wie dies von Werken des menschlichen Geistes erwartet werden
muß...“
Dieses Zitat von Max Bill ist natürlich nur eine Annäherung meinerseits. Gerade die
Werke von Ursula Herrndorf fordern dazu auf, dass jeder Betrachter sich selbst sein
Bild machen kann. Denn mit diesen Arbeiten sind die klassischen Mittel und Grenzen
der Malerei aufgehoben. Gleitende Lichtspiele und prismatische Reflexe haben
offensichtlich nichts mehr mit „Gemälden“ gemein, und doch sind sie wie diese
begrenzte Bildebenen, die ein bildliches Erlebnis vermitteln.
Die herkömmliche Identität von Malerei und farblich gestaltetem Bild wird
aufgehoben um neue Bildmöglichkeiten und mithin auch Erlebnismöglichkeiten zu
schaffen.
Dabei wird zusätzlich dem Licht in der Malerei eine ergänzende, visionäre
Möglichkeit gegeben. Betrachten wir die flirrenden Raster, übereinander und
ineinander geschoben und malerisch umgesetzt, so haben wir einen neuen Aspekt,
nicht nur in der Abgrenzung von Form und Farbe, sondern eine Erlebnismöglichkeit,
dass das Licht die letzteren überlagert. Daher der Titel dieser Ausstellung
„Lichtspiel“.
Vielen dieser Bilder ist ein merkwürdig gotisch zu nennender Hauch von Farbigkeit
eigen. Eine Farbigkeit, wie man sie von den diaphanen bunten Kirchenfenstern kennt,
deren Meister größtenteils unbekannt geblieben sind. Mittelalterliche Mystik scheint
auf, betrachten wir die vier großen Arbeiten in Gelb und Gold – ich zumindest
empfinde es so. Es ist eine von vielen Seh- und Erlebnismöglichkeiten, denn die
ungegenständliche Kunst von Ursula Herrndorf kommt aus tiefen Schichten und
berührt tiefe Schichten des menschlichen Bewusst- und Unbewusstseins.